Rehböcke zu Sündenböcken

"Wald vor Wild" ist eine ökonomisch

 verständliche Doktrin einer rein holzwirtschaftlich ausgerichteten Forstwirtschaft in Deutschland. 

Es ist Anfang Oktober, ich gehe durch einige Straßen Hamburgs. Bei jedem Schritt knackt es unter meinen Füßen, ich gehe auf einem Teppich aus Bucheckern, an der nächste Ecke rolle ich wie auf Rollschuhen über Eicheln. Die zahlreichen Samen der Ahornbäume machen keine Geräusche unter meinen Füßen.

Auf wenigen Metern liegen Hunderttausende von Samen unter jedem alten Laubbaum. Hierraus könnten Hunderttausende großer, starker Laubbäumen erwachsen. Tun sie aber nicht, weil wir ja in Hamburgs Straßen sind.

Wären wir im Wald, würde man diesen Vorgang „Naturverjüngung“ nennen. Dieser Prozess wiederholt sich jedes Jahr, d.h. jedes Jahr streut ein großer starker Laubbaum in seiner Umgebung Hunderttausende von Samen aus. Aus diesen Samen könnten neue Laubbäume erwachsen.

Diesen Ablauf wünschen sich unsere Förster in ihren Wäldern für den Aufbau neuer Baumgenerationen. Die Sache hat nur einen Haken. In den Kiefern-Monokulturen z.B. Brandenburgs fehlen die alten Laubbäume (Samenspender) meistens. Es kann also keine Naturverjüngung stattfinden. Auch wenn man noch so viele Rehe abschösse.

Um diese wichtigen Mischwälder aufzubauen, müssen mühsam mit viel Zeit, Arbeit und Kosten Laubbäume gepflanzt werden.

Diese wenigen auf Abstand gepflanzten Setzlinge werden tatsächlich leider oft vom Rehwild verbissen und verfegt. Wenn die Spitzen dieser kleinen Bäume abgebissen sind, wachsen hieraus meistens keine großen langen Baumstämme mehr, sondern buschige eher niedrige Kugelbäume. Diese können nach 50 Jahren aber auch gute Samenspender werden. Nur für gutes, gerades und astfreies Holz taugen sie nicht. Alle anderen Funktionen für den Klimaschutz können sie aber selbstverständlich auch übernehmen.

Anders ausgedrückt: die moderne Forstwirtschaft verurteilt die Rehböcke zum Tode durch Abschuss, weil diese angeblich die Naturverjüngung verhindern. Aber auch ohne Rehe würde keine Naturverjüngung funktionieren, denn es fehlen wie gesagt die großen alten Bäume als Samenspender. Über viele hundert Jahre würden natürlich schon Baumsamen eingetragen, nicht zuletzt durch das verpönte Wild. Diese Zeit haben wir aber nicht.

Um diese großen alten Bäume zu erhalten, müssen wir sie mit viel Arbeit pflanzen und bis sie groß sind leider auch aufwändig durch Zäune schützen. Es hilft uns nichts, den Rehbockabschuss zu fordern und so die Rehböcke zu Sündenböcken zu machen! So lenken wir nur von den forstwirtschaftlichen Fehlern der Vergangenheit ab.

Wir werden die Kosten für das Einzäunen nicht sparen können, indem wir die Rehe in unseren Waldmonokulturen abschießen. 

Der Aufbau von  gesunden Mischwäldern braucht viel Zeit. Mindestens zwei, wenn nicht drei Generationen, d.h. ca 100 Jahre.

Solche ökologisch aufgebauten Wälder sind durchaus ökonomisch nutzbar. Sie erfüllen aber auch viele ökologisch und Klimaschutz wichtige nachhaltige Aufgaben für unsere Gesellschaft und unsere Welt.

Deshalb plädiere ich dafür, unserem Wild seinen notwendigen Platz in unserer Kulturlandschaft und unseren Kulturwäldern zu lassen. Die Wildbestände sollten waldbaulich sinnvoll, aber auch wildbiologisch verantwortungsvoll von Jägern reguliert werden.

Ein ständiger Dialog in unserer Gesellschaft vor allem zwischen Jägern, Förstern und Waldbauern sollte mit Respekt und einer guten Portion Selbstkritik fortlaufend geführt werden.

Zusammen schaffen wir das.

Wald und Wild gehören zusammen